Eine Ballettprobe scheint wirklich harte Arbeit zu sein. Das Ensemble übt schon den ganzen Tag. Jetzt ist es fast 20 Uhr und einige Balletttänzer nutzen jede Gelegenheit sich auf den Boden zu setzen, obwohl die Probe seit einer halben Stunde öffentlich ist. Und trotzdem ist die Stimmung ausgezeichnet. Es wird viel gelacht. Da tritt der Choreograph an die Bühne und sagt, dass das seit einer halben Stunde geübte Mittelstück nicht gut aussieht. Die Tänzerinnen und Tänzer sollen es komplett umbauen.

Der Choreograph führt, indem er seine Perspektive einbringt

Ein spannender Moment für mich als Führungskraft. Ich beobachte fasziniert, dass die Ansage des Choreographen keinen Unmut erzeugt. Er saß oben im Zuschauerraum und hat sich das Bühnenbild von dort angesehen. Dann kam er hinunter und bringt nun seine Sicht ein. Die Tänzer hören sich das genau an.

Es geht um vier Takte, die durch die acht Paare auf der Bühne anders gestaltet werden sollen. Erst zwei, dann drei Tänzer fangen an zu improvisieren. Die anderen schauen sich das an, greifen Figuren auf und probieren sie aus. Andere unterstützen die ersten und tanzen mit ihnen. Der Choreograph beobachtet weiter ruhig das Geschehen und teilt seine Perspektive den Tänzern mit.

Die Tänzer sind müde und trotzdem entsteht hier gerade eine neue Passage. Ich kann die Kreativität förmlich sehen, wie die Tänzer Ideen aufgreifen, verwerfen und weiterentwickeln. Die Assistentin des Choreographen und der Ballettmeister des Theaters sind voller Aufmerksamkeit, melden ebenfalls ihre Beobachtungen und registrieren genau, was passiert.

Kreativität und gleichzeitig höchste Konzentration. Und immer wieder lautes Lachen, wenn zwei Tänzer zusammenstoßen oder eine Bewegung misslingt. Die Freude auf den Gesichtern der Tänzer und Tänzerinnen strahlt auf uns Zuschauer im Saal aus.

Soviel Team spirit, soviel Energie, Spaß und Freude bei der Arbeit, wie geht das?

Ich finde am Mainzer Ensemble spannend, dass es keinen festen Choreographen gibt. Jede Spielzeit wird mit drei bis vier verschiedenen Gast-Choreographen jeweils ein modernes Ballettstück einstudiert. Wie hat es diese „temporäre Führungskraft“ geschafft, so eine tolle Stimmung zu erzeugen. Nach einem Gespräch mit Dirk Dobiey, Gründer von und Berater bei Age of Artists, bin ich der Meinung, dass es die folgenden Elemente waren.

Das Stück wird zusammen entwickelt. Der Choreograph hat eine Grundidee. Die Details entstehen im Austausch mit den Tänzern. Dabei bringt sich jeder mit seinen Fähigkeiten, Kompetenzen und seiner Perspektive ein. Es wird intensiv kommuniziert. Es wird sehr viel geredet. Die Tänzer reden miteinander, welche Figuren sie machen sollen, wo sie langlaufen sollen, damit sie nicht zusammenstoßen. Die Beobachter von außen reden auch mit den Tänzern und untereinander.

Die Truppe plant nicht viel. Direkt handeln, ausprobieren steht im Mittelpunkt. Die Tänzer tun sofort, was sie sich ausdenken oder vereinbaren. Fehler sind einkalkuliert. Die einzelnen Schritte sind nicht groß, dadurch sind Fehler nicht gravierend. Und es ist egal, wenn einer eine Idee hat, die nicht aufgegriffen wird. Wichtig ist, dass das Ganze vorankommt. Und zu guter Letzt: Der Choreograph verhält sich genau wie alle anderen. Er beobachtet. Teilt seine Beobachtungen mit denen auf der Bühne. Er wird um seinen Rat gebeten. Er stellt seine Erfahrung und seine Perspektive den anderen zur Verfügung. Er führt auf Augenhöhe.

Ganz wesentlich ist das sehr anspruchsvolle gemeinsame Ziel. Das Ensemble wird das Stück vor den rund 400 Zuschauern im kleinen Haus aufführen. Ich bin mir sicher, dass jeder der Tänzer seine beste Leistung zeigen will. Eine starke Motivation. Deshalb wird ein Abschnitt so lange wiederholt, bis wirklich alle zufrieden sind.

Und zu guter Letzt unterstützt jeder den anderen. Die Abläufe müssen insgesamt gut aussehen. Es nützt keinem was, wenn er gut aussieht, die anderen aber nicht. So erkläre ich meine Beobachtung, dass fast eine Stunde lang immer derselbe kurze Abschnitt wiederholt wurde und die schnelleren so den langsameren geduldig helfen.

Ein starkes Vorbild für modernes Management

Mir ist an diesem Abend nochmal sehr deutlich geworden, was agiles Management in der Realität leisten kann. Wer als Führungskraft für ein klares Ziel sorgt, mitarbeitet, mehr coacht und weniger entscheidet und das Team seine Kompetenzen einbringen lässt, der wird engagierte Mitarbeiter und viel Spaß und Kreativität ernten. Und mit Sicherheit auch bessere Ergebnisse.

Ich freue mich schon auf den Abend, an dem ich das fertige Stück in Mainz sehen kann. Die Karten habe ich schon.